Freitag, 6. April 2007

Zur Ausdifferenzierung der Musiktherapie aus der Musikpädagogik


Der Unterschied zwischen Musikpädagogik und Musiktherapie ist selbst für viele Musiktherapeuten noch ungeklärt. Wenn sich Musiktherapie als eigenständige Disziplin profilieren möchte, ist diese Situation nicht unproblematisch. Generell gilt, dass Ansprüche auf Eigenständigkeit eher anerkannt werden, wenn eine gewisse Selbständigkeit und Autonomie auch erkennbar geworden ist. Pädagogen befassen sich seit vielen Jahrhunderten mit der Frage nach Strukturierung und Identitätsbildung: mit der Frage der Ausbildung der Persönlichkeit.
Der Wunsch nach Anerkennung, der Wunsch nach Autonomie hat auch etwas mit Akzeptanz zu tun. Akzeptanz setzt allerdings auch eine gewisse Klarheit darüber voraus, was genau zu akzeptieren ist. Was aber trüb erscheint, bedarf der Klärung.
These: Die Definition der Musiktherapie sowie ihre genaue Abgrenzung zur Musikpädagogik steht nach wie vor noch aus.
Aus der Wissenschaft wissen wir um die Bedeutung klarer Begriffe. Eine gewisse Exaktheit und Eindeutigkeit ist hier stark gefragt. Solange nicht auf klaren Definitionen aufgebaut werden kann, strebt die Wissenschaft nach Aufklärung.
Wer über Musiktherapie schreibt und in der Wissenschaft ernst genommen werden möchte, sollte daher möglichst klar wissen, worüber er schreibt. Unklare Begriffe offenbaren ihre Mängel sehr leicht. Fundiert erscheint, was durch ein tragfähiges Fundament gestützt wird. Auch eine profilierte Selbstbeschreibung ist akzeptabler als eine unpräzise und schwammige Selbstdarstellung. Das mag an ihrer besseren Überprüfbarkeit liegen. Dieses gilt sowohl für die Selbstbeschreibung eines Menschen, wie auch für die Selbstbeschreibung der sich von der Pädagogik ausdifferenzierenden und sich um Autonomie und um wissenschaftliche Anerkennung bemühenden Musiktherapie.
Unter Autonomie verstehen wir ein gewisses Maß an Selbstbestimmung und eine gewisse Unabhängigkeit von der Umwelt. Die Autonomie ist um so geringer, je größer die Abhängigkeit von der Umwelt ist. Von daher wird von einem Autonomen auch eine gewisse Eigenständigkeit in der Selbstbeschreibung erwartet. Wenn jedoch die Eigenständigkeit vernachlässigt wird um sich der Umwelt anzupassen, wird die Autonomie zweitrangig.
"Zusammenfassung:
Das Verhältnis von Musiktherapie und Musikpädagogik und ihre Abgrenzungsprobleme werden jeweils durch die vorherrschenden nationalen Definitionen von Musiktherapie bestimmt. Kostenträgern gegenüber ist eine Abgrenzung zwingend notwendig, denn die Musiktherapie muss einschlägigen gesetzlichen Vorgaben wie zum Beispiel den Richtlinien zur Ausübung der Heilkunde gerecht werden. Zur Unterscheidung von Musiktherapie und Musikpädagogik können verschiedene Merkmale angeführt werden, wie sie am Fallbeispiel dargestellt wurden. Eine endgültige Entscheidung über die Zuordnung einer musikalischen Aktivität zu einer Disziplin kann jedoch nie aufgrund eines einzelnen Merkmals getroffen werden. Vielmehr sollten die verschiedenen Merkmale jeweils sehr genau betrachtet werden." (Plahl, Koch-Temming, 2005, 63)


Ein vager Hinweis auf eine vorherrschende nationale Definition von Musiktherapie ersetzt kein eigenes Profil. Wünschenswert wäre eine klare Definition von Musiktherapie. Doch auch Christine Plahl und Hedwig Koch-Temming bieten in ihren Grundlagen der Musiktherapie mit Kindern keine präzisen Kriterien, nach denen klar unterschieden werden kann, wo der Bereich der Musikpädagogik endet und das Territorum der Musiktherapie überlässt.

So stellt sich die Frage, warum diese Grenzziehung nach wie vor so ungeklärt ist.
Ähnlich wie es bereits Handwerker gab, bevor deren Arbeit wissenschaftlich untersucht worden ist, wird mit Musik im sozialen Bereich und in der Heilkunde bereits lange experimentiert. Von Musikpädagogen und Musikern wird nicht primär erwartet, dass sie ihre Arbeit in wissenschaftlicher Manier bewältigten. Auch vom Handwerker, der einen Wasserhahn reparieren soll, erwartete man keinen wissenschaftlichen Vortrag, sondern einen wieder funktionsfähige Wasserhahn, der nicht tropft, wenn er zugedreht worden ist. Für Praktiker und diejenigen, die sie beauftragten, zählte vor allem das Ergebnis.
So stellt sich die Frage, wer überhaupt ein Problem mit der Abgrenzung der Musiktherapie von der Musikpädagogik hat. Welcher Nutzen könnte aus einer solchen Trennung gezogen werden?
Mit dieser Frage wird die in den letzten Jahrzehnten erfolgte Berufsrollenausdifferenzierung in die Aufmerksamkeit gerückt. Wie läßt sich der hier erfolgte Ausdifferenzierungsprozess erklären? Welche Beweggründe und Motive könnten dazu geführt haben, dass es zunehmend wichtiger wurde Musiktherapie von Musikpädagogik zu unterscheiden?
Die Spezialisierung in einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft könnte das Phänomen erklären. Und irgendwann tauchen Abgrenzungsbedürfnisse auf, die den Prozess einer neuen Identitätsbildung begleiten. Dem einzelnen mag es um eine Statusverbesserung oder ein besseres finanzielles Einkommen gehen. Doch läßt sich auch eine Tendenz der Professionalisierung beobachten, wozu auch die Gründung musiktherapeutischer Ausbildungsstätten mit einer zunehmenden Zahl von Absolventen zu zählen ist.
Wer sich abgrenzen möchte, eine eigene berufliche Identität entwickeln möchte, wird sich auch den entsprechenden Fragen zu stellen haben. Was genau macht die Eigenständigkeit der Musiktherapie aus? Wie unterscheidet sich Musiktherapie von dem was sie nicht ist, was ist der Unterschied zwischen Musiktherapie und Musikpädagogik, zwischen Musiktherapie und Heilpädagogik, zwischen Musiktherapie und Musiksozialarbeit, zwischen Musiktherapie und musikalischer Gruppenarbeit, etc.?


Unterscheidet sich Musiktherapie durch eigenständige und spezifisch musiktherapeutische Methoden? Wo genau liegt der Unterschied zwischen einer Musikpädagogik und einer Musiktherapie? Gibt es explizit musiktherapeutische Verfahren, die nicht auch als musikpädagogisch bezeichnet werden könnten? Wodurch genau lässt sich eine durchgeführte Musiktherapie identifizieren?
Nimmt man das PsychThG in der von den Kostenträgern des Gesundheitssystems praktizierten Auslegung, lässt sich die psychotherapeutische Musikktherapie von Nicht-psychotherapeutischen Verfahren mit Musik trennen; doch bietet diese Lösung keine intrinsische Identität, denn die Musiktherapie wird dabei durch externe Instanzen definiert. Dadurch wird es der Musiktherapie zwar ermöglicht, sich nicht selbst definieren zu müssen, jedoch erscheint uns dies als eine recht niedrige Stufe der Identitätsbildung. Was ist das für eine Identität, was ist das für eine Autonomie, wenn zur Aufrechterhaltung der Identität die Zuschreibung anderer zwingend erforderlich ist?
Auch lässt sich die Musikpädagogik nicht einfach aus einem von der Musiktherapie abgesteckten Terrain vertreiben. Tatsächlich begründet sich manche Musiktherapie auf explizit musikpädagogisch arbeitende Vorbilder. So schrieb Juliette Alvin musikpädagogische Fachbücher, sie bezeichnete sich nicht als Musiktherapeutin, obschon sie mit kranken Kindern arbeite und ein musikpädagogisches Modell zur Behandlung autistischer Kinder entwickelte. Ein 'krankes' Klientel verzaubert Musikpädagogik auch nicht automatisch in Musiktherapie!
Juliette Alvin benötigte keine spitzfindige Unterscheidung zwischen Musiktherapie und Musikpädagogik, sie machte, was sie machte.
Diejenigen, die sich für eine begriffliche Ausdifferenzierung der Musiktherapie aus der Musikpädagogik einsetzen, müssen zukünftig ihre Begriffe schärfen um Eindeutigkeit statt Unschärfe zu erzielen.


Zuständig für wissenschaftliche Definition sind letztlich wissenschaftlich arbeitende Forscher. Dies bedeutet nicht, dass musiktherapeutische Berufsverbände bei der Identitätsfindung ohne Einfluss wären. Doch die wissenschaftliche Unterscheidung zwischen Musiktherapie und Musikpädagogik ist eine wissenschaftliche Angelegenheit.
Die Ausdifferenzierung der Musiktherapie von der Musikpädagogik befindet sich - bildlich gesprochen - in einer noch recht trüben Phase. Entsprechend besteht noch die Chance einer Klärung.
Die Unschärfe der Begriffe Musiktherapie und Musikpädagogik überträgt sich ohne Klärung übrigens auch auf die Begriffe 'Musiktherapieforschung' und 'Musikpädagogikforschung': eine saubere begriffliche Trennung ist derzeit auch hier nicht vorzufinden.


Zitat aus:
Plahl, Christine; Koch-Temming, Hedwig (2005) In: Plahl; Koch-Temming (Hrsg.)Musiktherapie mit Kindern. Grundlagen - Methoden -Praxisfelder. Bern: Huber.

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