Dienstag, 30. Januar 2007

Kunst und Wissenschaft

Die Frage der Wirkung von Musik wird in der Wissenschaft oft sehr kontrovers diskutiert, die schriftlichen Ergebnisse erscheinen jedoch nicht selten banal oder unverständig. Wenn die Wirkung von Musiktherapie oder Musikpädagogik diskutiert wird, ist oft Ähnliches zu beobachten.

Der verbalen Herangehensweise an Musik begegnete die amerikanische Performance-Künstlerin Laurie Anderson besonders skeptisch: über Musik zu reden sei, wie zur Architektur zu tanzen. Die einfach differenzierende Herangehensweise an Musik erscheint vielleicht gerade dann ungenügend, wenn dabei nur noch zerlegt, aber nichts mehr zusammengesetzt wird.

Während nun aber die Wissenschaft stärker zum Differenzieren neigt, befaßt sich die Kunst eher mit der Bündelung und Komprimierung von Information, während dort vorwiegend die Zerlegung erfolgt, wird hier Komplexität reduziert. Integration und Differenzierung können als unterschiedliche Prozesse beschrieben werden.

Ein Dichter als Künstler versteht sich auf das Verdichten und ist oft zu hohen integrativen Leistungen imstande. Dies kann an den folgenden Zeilen von Hermann Hesse verdeutlicht werden:

"Die Orgel hebt wieder an, tief und leise, ein langer, stiller Akkord; und über ihn hinweg steigt eine Geigenmelodie in die Höhe, in wundervoll geordneten Stufen, wenig klagen, wenig fragend, aber aus geheimer Seligkeit und Geheimnisfülle singend und schwebend, schön und leicht wie der Schritt eines jungen hübschen Mädchens. Die Melodie wiederholt sich, ändert sich, verbiegt sich, sucht verwandte Figuren und hundert feine, spielende Arabesken auf, windet sich flüssig auf engsten Pfaden und geht frei und gereinigt wieder hervor als ein stillgewordenes, geklärtes Gefühl. Hier ist keine Größe, hier ist kein Schrei und keine Tiefe des Leidens, noch auch hohe Ehrfurcht, hier ist nichts als die Schönheit einer begnügten, frohen Seele. Sie hat uns nichts anderes zu sagen, als dass die Welt schön und voll von göttlicher Ordnung und Harmonie ist, ach, und welche Botschaft hören wir seltener und haben wir nötiger als diese frohe!" (Hesse, 1985, 25)

Hermann Hesse beschreibt die Wahrnehmung von Musik durch ein Individuum. Dabei stolpert der Dichter nicht, verliert sich nicht in unzusammenhängender Differenzierung. Er fragt aber auch weder unverständig noch unreflektiert noch simplifizierend nach einer 'objektiven' Wirkung von Musik, die es zu beweisen gäbe bevor ... Bevor was überhaupt?
Hermann Hesse ging als Künstler einen Schritt weiter. Nicht orientierungslos sich verieren, sondern sich für andere nachvollziehbar zu äußern, Informationen zu verdichten und zu komprimieren, das ist eine Art, eine lyrische Weise, sich mit Beobachtungen reflektiert auseinanderzusetzen. Hier ist die Kunst zuhause.

Das gewählte Beispiel, die verdichtende Herangehensweise von Hermann Hesse mag uns daran erinnern, dass sich Kunst und Wissenschaft sehr deutlich voneinander unterscheiden. Kunst ist Kunst und Wissenschaft ist Wissenschaft: Das eine ist nicht mit dem anderen zu verwechseln, denn es gibt gravierende Unterschiede.

Jedoch können Leistungen der einen Disziplin vom denkenden Menschen auch fruchtbar gemacht werden für die andere Disziplin, denn sowohl die Einseitigkeit wie auch der Tunnelblick: beide sind begrenzt. Doch wem daran gelegen ist, Grenzen zu erweitern, sollte sich nicht ausschließlich auf eingegleisten Wegen bewegen.

Eingefahrene Wege beging auch nicht der deutsche Systemtheoretiker Niklas Luhmann, der die Unterscheidung 'wahr - falsch' als von zentraler Bedeutung für das wissenschaftliche System identifizierte. Doch lassen sich auch in der Kunst immer wieder Wahrheitsansprüche aufspüren. Die Wissenschaft ist nicht ohne Konkurrenz auf dem von ihr abgesteckten Terrain.

Zerlegung und Synthese sind einander komplementär: wer nur noch differenziert, läuft Gefahr sich in einer zusammenhanglosen Welt zu verlieren, ähnlich wie ein kleiner Junge, der sich zwar darauf versteht, einen Wecker zu zerlegen, nicht aber darauf, die Einzelteile wieder zu einem funktionierenden Gerät zusammenzufügen. Natürlich sind auch in der Wissenschaft Integrationsleistungen gefragt. Nicht umsonst waren gerade die besonders großen Wissenschaftler oft nicht nur Wissenschaftler, sondern immer wieder auch mit künstlerischen Fähigkeiten ausgestattet: Denken wir an die vielen Mathematiker, die auch Musiker waren, denken wir an den Dichter Goethe, der vielen auch als letzter 'echte' Universalwissenschaftler galt, oder denken wir an den Wissenschaftler Albert Einstein, der als Wissenschaftler auch über Humor verfügte und auf der Geige zu Musizieren verstand.

Zitat:
Hesse, Hermann (1958) Alte Musik. In: Michels, Volker (Hrsg.) Hermann Hesse. Musik. Frankfurt: Suhrkamp, S.25.

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